Beim Ultraschall am Anfang meiner Schwangerschaft war unsere Melina in ihrer Fruchtblase gar nicht zu erkennen und erst in einer Spezialpraxis konnte der Herzschlag unserer Tochter gefunden werden. Sie ist eben ein „Eckenhocker“ sagte man uns. Mit meinen drei größeren Kindern, 20, 17 und 14 Jahre alt, hatte ich problemlose Schwangerschaften hinter mir und so etwas noch nie gehört. Schon bald ging es mit den Besonderheiten weiter, denn ich hatte starke Blutungen, die sich leider wiederholten, bis ich in der 17. Woche stationär aufgenommen wurde und streng liegen musste. Ich hielt 10 Wochen durch, dann ließ sich Melina nicht mehr aufhalten und kam mit 950 Gramm auf die Welt.
Mir ging es bei der Geburt sehr schlecht. Ich brauchte zahlreiche Blutkonserven, musste zwei Mal reanimiert werden und lag drei Tage auf der Intensivstation. Melina schien anfangs recht stabil zu sein, aber nach zwei Tagen bekam sie eine massive Hirnblutung und zwei Lungenrisse. Es musste ein sogenanntes Rickham-Reservoir in ihren Kopf gelegt werden, ein Ventil, das eine tägliche Punktion des Kopfes ermöglicht. Ständig gab es neue Komplikationen. Beide Augen wurden gelasert und dann riss auch noch der Schlauch ihrer Hirnwasser-Ableitung. Daraufhin war eine komplizierte, sechsstündige Operation nötig. Als sie etwas größer war, wurde Melina ein dauerhafter Shunt implantiert, um einen Wasserkopf zu vermeiden. Vier Monate lag unsere kleine Tochter in der Klinik. Sobald ich körperlich dazu im Stande war, stand ich ihr rund um die Uhr bei und versuchte ihr ein wenig Geborgenheit zu geben. So wurden wir in dieser Zeit auch als Familie auseinandergerissen. Alle litten unter dieser Extremsituation und hatten Angst, was der nächste Tag wieder für Hiobsbotschaften bringen würde. Die älteren Kinder, sonst sehr gute Schüler rutschten mit ihren Noten ab. Auch als Melina und ich endlich zu Hause waren, hörten die schlimmen Erlebnisse nicht auf. Gerade als der große Bruder Luca sein kleines Schwesterchen auf dem Arm hielt, hörte sie auf zu atmen und wir mussten den Notarzt rufen, Neugeborenen-Krampfanfälle wurden diagnostiziert.
Mit der Hilfe von Frau B. vom Bunten Kreis haben wir uns durch diese wahnsinnig schwere Zeit gekämpft. Oft war ich am Ende meiner Kräfte. Ich wollte auch den Großen gerecht werden und war gleichzeitig ständig voller Sorgen um Melina. Doch Schritt für Schritt gelang es uns, in die Normalität eines guten Familienlebens zurückzufinden. Frau B. gab mir mit jedem Besuch ein wenig Sicherheit zurück. Heute sind alle stolz auf Melina, die gute Fortschritte macht. Ihre Geschwister behandeln sie wie ihre „goldene Königin“ und lassen sich alles von ihr gefallen. Wir alle hätten nie gedacht, dass es uns einmal wieder gut gehen würde. Daran hat der Bunte Kreis einen großen Anteil und Frau B. wird immer in meinem Herzen bleiben.
Damals schon hat sie mir gesagt, dass immer wieder einmal Steine im Weg liegen würden. Daran muss ich jetzt immer denken, wenn Melina Probleme hat. Sie möchte so gerne anderen Dreijährigen hinterherrennen, aber durch ihre Spastik in den Beinen schafft sie es kaum zu stehen. Dann weint sie vor Enttäuschung und Wut. Dass ihr Bewegung Spaß macht, merkt man daran, wie gern sie sich auf das Trampolin begibt und auf ihrem Bobbycar flitzt sie richtig durch die Wohnung. Deshalb ist die Physiotherapie zur Stärkung ihrer Beine enorm wichtig. Geistig ist Melina zum Glück sehr fit. Ein Segen nach den Hirnblutungen, zahlreichen Vollnarkosen und Sedierungen, die sie hinter sich gebracht hat. Sie spricht sehr schön in ganzen Sätzen und freut sich, ihre großen Geschwister zu necken.
Noch immer bin ich sehr ängstlich mit Melina. Jedes Mal, wenn sie hinfällt, habe ich eine Schrecksekunde, denke an ihre offene Fontanelle und den Shunt in ihrem Kopf. Seit August haben wir einen Platz in einem Integrationskindergarten, da könnte Melina endlich mit anderen Kindern spielen. Theoretisch. Aber Corona macht uns einen Strich durch die Rechnung und wird zu einer enormen Zusatzbelastung. In vier Monaten war Melina nur zwei Wochen dort. Beim leisesten Verdacht auf die Krankheit bei anderen Kindern oder beim Personal werde ich schon nervös. So ist Melina beinahe ausschließlich mit der Familie zusammen. Auch wir haben kaum Kontakte. Wenn jemand in der Familie die leichtesten Erkältungssymptome zeigte, wird er ausquartiert und muss bei Oma übernachten. Jetzt hoffen wir sehr, dass die Zeit, in der wir nur zuhause sitzen irgendwann ein Ende hat.